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8.12.11

„Jetzt, jetzt weiβ ich, daβ es das Paradies war“. Literarische Verwirklichung der Welt der Kindheit in Borcherts Kurzgeschichten. Teil 2

Die Geschichte Der Stiftzahn oder Warum mein Vetter keine Rahmbonbon mehr iβt gestaltet Borchert mithilfe von Situationskomik. Sein dichterisches Profil wurde auch durch die Erkenntnis geformt, dass die Literatur eine Art Spiel sein kann, die er vor allem dann literarisch umsetzte, wenn seine Kindheitserinnerungen im Mittelpunkt standen. In der Kurzgeschichte porträtiert Borchert seinen Cousin Karlheinz. Er beschreibt einen gemeinsamen Ausflug ins „Vorstadtkino“, in dem Rahmbonbons für Kinder verkauft wurden. Für dreiβig Pfennig, die sein Cousin dabei hatte, kaufte er „eine Unmasse Rahmbonbon“ (Borchert 1947: 354). Die Bonbons gehörten für die Kinder zum Sonntag, sie gehörten zum Kino: „Es roch nach Kindern, Aufregung, Bonbon“ (Borchert 1947: 354). Die beiden Jungs waren somit die glücklichsten Kinder im Kino. Weiter beschreibt Borchert mit Humor, wie seinem Cousin ein Zahn, ein Stiftzahn, ausgefallen ist. Das Suchen nach dem Zahn war vergeblich. Der Verfasser schildert so die Stimmung der beiden: „mit verfinsterten Gemütern und dunklen Vorahnungen, mein zahnloser Vetter und ich“ (Borchert 1947: 357). Er scheint besorgt zu sein, aber in Wirklichkeit kann er sich des Lachens kaum enthalten. Schlieβlich wurde der Zahn gefunden. Borchert erinnert sich an diesen lustigen Nachmittag, an dem er mit seinem Cousin die Zeit verbrachte und lachte: „Und dann konnten wir endlich lachen. Bis uns die Tränen in den sauberen Sonntagskragen liefen“ (Borchert 1947: 358).

In der Kurzgeschichte Die Kirschen verarbeitet Borchert das Verhältnis zu seinem Vater. Er gibt zu, dass er auf seine Stimme manchmal nicht gehört hat, dass sein Benehmen oft nicht in Ordnung gewesen ist. Dieses Wissen bedrückt sein Gewissen, er ist mit Schuld beladen. Er will seine Irrtümer, seine Fehler ausräumen. Soweit er zurückdenken konnte, hatte er sich mit seinem Vater nie richtig verstanden. Jetzt ist er sich dessen bewusst und will mit sich selbst ins Reine kommen. Deswegen klingt in der Geschichte das Motiv der Schuld an, die er früher unterdrückte. In der dargestellten Situation macht er sein Schuldgefühl anschaubar. Dort, wo bei Borchert die Gestalten des Vaters erscheinen, ist die Stimmung der Melancholie deutlich ablesbar. Die Vater-Figuren sind meistens hilflos, rührend, unfähig zum Handeln. So ist es auch in der Geschichte Die Kirschen. Es ist eine Vater-Sohn-Komplikation. Der kranke, fiebernde Junge glaubt, dass sein Vater die Kirschen aβ, die vermutlich seine Mutter für ihn kalt gestellt hatte. Er ist misstrauisch, nimmt die Erklärungen des Vaters nicht wahr, dem vermeintlich Kirschsaft über die Hand läuft. Der Vater ist ausgerutscht und kommt nicht wieder hoch. Er erklärt dem Sohn, dass es kein Kirschsaft ist, sondern Blut, da er sich an einer Tasse geschnitten hat. Schlieβlich sieht der Sohn seine Schuld ein und macht sich selbst Vorwürfe. Er zieht die Decke über den Kopf und sieht nicht auf, als sein Vater ihm Kirschen in sein Zimmer bringt. Er muss im Stillen über sein Verhalten nachdenken.

In der Geschichte schlägt sich Wolfgang Borcherts Verhältnis zu seinem Vater nieder. Peter Rühmkorf beschreibt in seiner Biografie Borcherts Vater folgendermaβen:

(...) „ein zurückhaltender Mann, leise, duldsam, ein wenig verschlossen und von hoher Sensabilität“ (Rühmkorf 1961: 7).

Borchert hatte eine kühle Beziehung zu seinem Vater, oft hörte er auf ihn nicht, manchmal missachtete er seine Meinung. Später, als er schwer krank ist, beobachtet er die Bemühungen seines Vaters, der nach der Arbeit seine Geschichten auf der Maschine abschreibt, und sieht ihn als einen gutmütigen, liebevollen Menschen. Er weiβ ihn zu schätzen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren die Lebensumstände allgemein schwierig. Fritz Borchert musste seine goldene Uhr verkaufen, aus der Schule brachte er jeden Tag eine Portion Suppe mit. Er war ein ruhiger, strenger Vater, der seinen Sohn vor allem mit Toleranz erziehen wollte. Fritz Borchert war auch Begutachter der literarischen Versuche seines Sohnes:

Eher rezeptiv und verbessernd als aktiv anregend, eher im Detail kleinlich als aufs Groβe bestimmend und lenkend, begutachtete er die ausschweifende Gedichtproduktion des Sechzehn-, Siebzehn-, Achtzehnjährigen, ohne übermäβiges Gefallen daran zu äuβern, allerdings auch ohne den Sohn durch ein Zuviel an Vorschlägen zu verstören“ (Rühmkorf 1961: 7-8).

Die Geschichte Die Professoren wissen auch nix reicht über Borcherts Kindheitserinnerungen hinaus. Er kränkelte seit dem Kriege. Er beschreibt die Tage seiner Krankheit, als er der besonderen Hilfe bedurfte und als seine Eltern sich um den bettlägerigen, hilflosen Schriftsteller liebevoll und mitfühlend gekümmert haben, damit er wieder zu Kräften kommt. Die letzten beiden Jahre vor seinem Tod am 20. November 1947 war er zur Bewegungslosigkeit verurteilt. Er zeigt die Geduld und die Mühe seiner Eltern, die Krankheit ihres Sohnes zu besiegen. Der lebenshungrige Schriftsteller rafft sich auf, um aus seinem schwebenden Zustand herauszukommen. Vergeblich, weil es keine Wunderwaffe gegen die Krankheit gibt. Er hatte keine Möglichkeit, das Leben in vollen Zügen zu genieβen. Das Schreiben war für ihn die einzige mögliche Aktivität. Sein Eifer beim Schreiben war enorm. Borchert betrachtete es als eine Übergangslösung, er wollte bis zum Gesundwerden überhaupt etwas tun. Er stand schlieβlich im Zenit seines Lebens und dachte nichts ans Ende. Er gab sich alle erdenkliche Mühe, aktiv zu sein. Von den Zuständen mangelnder Motivation zum Schreiben war bei ihm nichts zu spüren. Bei dem Gedanken, nichts zu tun, packte ihn Widerwille. Obwohl das Leben ihn in diese schwierige Lage verwickelte, wollte er sich seinem hoffnungslosen Zustand nicht einfügen.

Die Geschichte Die Professoren wissen auch nix zeigt, wie unmittelbar eigene Erlebnisse auf seine Dichtungen eingewirkt haben und wie er das individuell Biographische in dichterisches Geschehen verwandelte und künstlerisch gestaltete. Wie schon erwähnt, nahm Borchert seinen Vater erst in Zeiten der Krankheit wahr: „Und vor einer Tür stand immer kleiner werdend ein Mann, grau und mager, und sagte: Ist gut mein Junge. Später wuβte er: Das war mein Vater“ (Borchert 1947: 78). Früher hat er ihn sonderlich nicht beachtet. Der Vater war kein Widerstand für ihn, mit ihm musste der Sohn sich nicht auseinandersetzen, er scheint unauffällig gewesen zu sein:

Damals hatte man seinen Vater. Wenn es dunkel wurde. Wenn man ihn schon nicht mehr sah in der violetten Dämmerung. Man hörte ihn doch. Wenn er hustete. Und wenn er durch die Wohnung ging und dabei hustete. Und man roch seinen Tabak. Und das genügte schon“ (Borchert 1947: 259)

Dieser Text stammt aus der Kurzgeschichte Er hatte auch viel Ärger mit den Kriegen. Die Gestalt des Vaters wird auch in anderen Geschichten erwähnt, so z.B. in Vorbei vorbei. Hier richtet der Vater mehrmals folgende Worte an seinen Sohn: „Ist gut, mein Junge“. Vielleicht sind es auch Worte, die Fritz Borchert seinem Sohn wiederholt hat, als dieser krank im Bett lag. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass der Vater, den der Sohn erst in dieser Zeit richtig wahrnahm, ihn mit diesen Worten tröstete. So lieβ er einen Hoffnungsschimmer durchscheinen.

Auch in der Kurzgeschichte Die lange lange Straβe lang wird die Gestalt des Vaters erwähnt. Es ist eine Kriegsgeschichte. Timm – Alter Ego der Hauptperson – berichtet über einen älteren Mann, den er in Russland während des Krieges getroffen hat: „Aber er hat ein Gesicht gehabt wie sein Vater. Genau wie sein Vater“ (Borchert 1947: 293). Wolfgang Borchert hat selbst den Krieg an der Ostfront in Russland erlebt und Erinnerungen aus dieser Zeit sind in viele von seinen Werken eingegangen. Die Kurzgeschichte Das Holz für morgen handelt von einem 11-jährigen Jungen, der über den Selbstmord nachdenkt, um diese Absicht immer wieder zu vergessen. Er fühlt sich von seinen Eltern nicht verstanden: „Er wurde nicht von denen verstanden, die er liebte. Und gerade das hielt er nicht aus, dieses Aneinandervorbeisein mit denen, die er liebte“ (Borchert 1947: 344). Manche Gedanken des Jungen kann man mit denen Borcherts identifizieren, wenn man an seine anfangs distanzierte Beziehung zum Vater denkt. Darüber hinaus wird in der Geschichte der Spielkamerad des Jungen erwähnt – Karlheinz.

Borcherts Vater schrieb die Geschichten und die Gedichte seines Sohnes auf der Maschine ab. Abends, nach der Schule. In der humorigen Geschichte Die Professoren wissen auch nix beschreibt Borchert die Tage seiner Krankheit und die Besorgnis seiner Eltern um ihn. Er war auf ihre Hilfe angewiesen. Er schreibt über die eigene Ungeduld: „Aber ich gebe mir Mühe, geduldig zu sein wie ein Kirchenheiliger, dem man die Fingernägel absengelt und der mit seiner Engelsgeduld Gott einen Gefallen tun wird“ (Borchert 1947: 401-402). Gleich am Anfang der Geschichte finden sich humorvolle Reflexionen über seinen Zustand: „Ich bin ein Omelett. Vielleicht nicht so appetitlich und knusperig, aber ich liege mindestens ebenso gelb und flach in der schwarzen Stimmung meines Krankseins wie das Omelett in der Schwärze seiner Bratpfanne“ (Borchert 1947: 401). Er beobachtet die Welt drauβen und den Vater, der seine Geschichten abschreibt und behauptet, er tue es aus Angst, dass sein schwer kranker Sohn es selbst tun würde. Zugleich weiβ er doch, dass der Vater dies aus Liebe zu seinem Sohn tut: wenn dieser nachts Geschichten schreibt, werden sie schon morgens auf der Maschine abgeschrieben: (...) „aber er behauptet, es wäre für ihn eine Erholung“ (Borchert 1947: 402). Er setzt sich mit seinem Vater auseinander, streitet mit ihm, diskutiert mit ihm über seine Geschichten. Erst jetzt weiβ er die Persönlichkeit und das Wissen seines Vaters zu schätzen. Die Mutter steht in dieser Zeit in der Küche. Die Küche wird realistisch als „kalt“ und „ungemütlich“ beschrieben. Als der Vater sich in die Küche begibt, weiβ der Erzähler, dass er mit seiner Mutter über eine seiner Geschichten diskutieren wird: „So ist das jetzt in unserer Küche“ (Borchert 1947: 404). Borcherts Mutter war froh, dass er sich eine praktische Aktivität gefunden hat. Sie hat damals seine Geschichten nicht gelesen, vielleicht aus Angst, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit für sie zu aufregend wäre oder aus Angst davor, dass ihr Sohn die Kritik oder die Enttäuschung nicht ertragen würde. Denn Hertha Borchert beschäftigte sich selbst mit Literatur – sie war eine bekannte Heimatschriftstellerin.

Die Gestalt des Vaters erscheint in Borcherts Geschichten oft am Rande auf. Oft scheint sie nur ein Schatten zu sein, oft ist sie leicht zu übersehen, so wie in der Geschichte Die Hundeblume, die aus der unmittelbaren Selbsterfahrung entstand und in der der Vater nur kursorisch erwähnt wird. Es ist Borcherts bekannteste Gefängnisgeschichte und sein Selbstporträt: „Sie dürfen nicht vergessen, daβ es diesen Hundeblumen-Mann gibt, daβ er 21 Jahre alt war und 100 Tage in einer Einzelzelle saβ mit dem Antrag der Anklagevertretung auf Tod durch Erschieβen! 100 Tage. 21 Jahre. Er hat wirklich eine Hundeblume geklaut und durfte zur Strafe eine Woche nicht mit im Kreise gehen!“ (zit. bei Rühmkorf 1961: 67). Als es dem Erzähler gelingt, die begehrte Blume auszureiβen, die für alles steht, was es hinter den Gefängnismauern gibt, wird ihm bewusst, dass die Blume die ganze Natur symbolisiert, die früher für ihn auf diese Art und Weise nicht in Betracht gekommen ist. So erinnert ihm die Blume an seinen Vater: „Er empfand ihre keusche Kühle wie die Stimme seines Vaters, den er nie sonderlich beachtet hatte“ (Borchert 1947: 43).

VERWENDETE LITERATUR:

Primärliteratur:

BORCHERT, Wolfgang (1947): Das Holz für morgen. In: Das Gesamtwerk, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2009.

BORCHERT, Wolfgang (1947): Der Stiftzahn oder Warum mein Vetter keine Rahmbonbon mehr iβt. In: Das Gesamtwerk, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2009.

BORCHERT, Wolfgang (1947): Die Hundeblume. In: Das Gesamtwerk, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2009.

BORCHERT, Wolfgang (1947): Die Kirschen. In: Das Gesamtwerk, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2009.

BORCHERT, Wolfgang (1947): Die lange lange Straβe lang. In: Das Gesamtwerk, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2009.

BORCHERT, Wolfgang (1947): Die Professoren wissen auch nix. In: Das Gesamtwerk, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2009.

BORCHERT, Wolfgang (1947): Er hatte auch viel Ärger mit den Kriegen. In: Das Gesamtwerk, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2009.

BORCHERT, Wolfgang (1947): Vorbei vorbei. In: Das Gesamtwerk, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2009.

Sekundärliteratur:

GUMTAU, Helmut (1969): Wolfgang Borchert. Colloquium Verlag: Berlin.

KASZYŃSKI, Stefan H. (1970): Typologie und Deutung der Kurzgeschichten von Wolfgang Borchert. Uniwersytet im. Adama Mickiewicza: Poznań.

RÜHMKORF, Peter (1961): Wolfgang Borchert mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt Taschenbuch Verlag: Reinbek bei Hamburg.

SCHRÖDER, Claus B. (1988): Drauβen vor der Tür. Eine Wolfgang-Borchert-Biographie. Henschelverlag Kunst und Gesellschaft: Berlin.

SCHULMEISTER, Rolf (1976): Wolfgang Borchert. In: Weber, Dietrich: Deutsche Literatur der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Band I. 3., überarbeitete Auflage. Alfred Kröner Verlag: Stuttgart.

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