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1.9.13

Theodor Storm: "Immensee". Teil 7

"Meine Mutter hat's gewollt" 

An einem Abend saß die Familie gemütlich im Gartensaal zusammen. Neben Reinhard saß Elisabeth. Man bat ihn, einige Volkslieder zu singen, die ihm von einer Frau vom Lande zugeschickt worden waren. Über die Herkunft von Liedern sagte Reinhard:

Sie werden gar nicht gemacht; sie wachsen, sie fallen aus der Luft, sie fliegen über Land wie Mariengarn, hierhin und dorthin und werden an tausend Stellen zugleich gesungen. Unser eigenstes Tun und Leiden finden wir in diesen Liedern; es ist, als ob wir alle an ihnen mitgeholfen hätten. 

Eines der Lieder kannte auch Elisabeth und sang mit Reinhard mit. Inzwischen nähte die Mutter und Reinhard hörte zu. Als sie fertig waren, war es ganz leise. Plötzlich hörten sie einen Knaben dasselbe Lied singen:

Ich stand auf hohen Bergen
Und sah ins tiefe Tal ...

Es stellte sich heraus, dass das Lied in dieser Gegend oft gesungen wird.
Als es schon dunkler wurde, las Reinhard das nächste Lied vor:
Meine Mutter hat's gewollt,
den andern ich nehmen sollt;
was ich zuvor besessen,
mein Herz sollt es vergessen;
das hat es nicht gewollt.
Meine Mutter klag ich an,
sie hat nicht wohl getan;
was sonst in Ehren stünde,
nun ist es worden Sünde;
was fang ich an?
Für all mein Stolz und Freud
gewonnen hab ich Leid.
Ach, war das nicht geschehen,
ach, könnt ich betteln gehen
über die braune Heid!


Beim Lesen zitterten Reinhard die Hände. Elisabeth schwieg und begab sich in den Garten. Reinhard ging an den See spazieren und sah die Lilie wieder. Er schwamm in ihre Richtung, aber es schien ihm, als ob die Entfernung zwischen ihm und der Blume nicht geringer geworden wäre. Endlich näherte er sich ihr, fühlte sich jedoch unheimlich. Als er ins Haus zurückkam, fand er Erich und die Mutter vor, die sich mit Vorbereitungen auf eine Geschäftsreise beschäftigten. Auf ihre Frage, wo er gewesen war, antwortete Reinhard, dass er die Wasserlilie besucht hatte, die er früher gekannt hatte. Es war jedoch schon lange her. 

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