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6.10.11

Georg Kaisers „Von morgens bis mitternachts“ – ein Paradebeispiel für das expressionistische Drama

Mein Text:

Als Expressionismus wird die von ca. 1910 bis 1925 andauernde Strömung bezeichnet. Ihre Tendenzen drangen in alle Kunstbereiche ein: sie wurde also durch die Literatur, durch das Theater, durch die bildende Kunst, durch die Architektur, durch die Musik und durch den Film dokumentiert. Der Expressionismus wird sich mit der Krise des modernen Ichs auseinandersetzen und die bürgerliche Gesellschaft einer scharfen Kritik unterziehen.

Der expressionistische Held ist jemand, der gegen die bestehenden Verhältnisse rebelliert, der sich weigert, den konventionellen Lebensweg zu gehen, der mit der Welt und mit der eigenen Existenz zutiefst unzufrieden ist, der seinen Protest endlich laut artikulieren will und der sich ein anderes, geglücktes Leben ausmalt. Was er will, ist dem innersten Charakter treu zu sein, sich von der Aufsicht der bürgerlichen Gesellschaft zu befreien, das eigene Leben selbst zu gestalten und auf diese Weise „unabhängige Würde“ zu gewinnen. Die „unabhängige Würde“ sollte durch die Selbstbestimmung und durch die Emanzipation von der bürgerlichen Gesellschaft manifestiert werden.

Solchen Helden begegnet man in vielen expressionistischen Dramen. Die expressionistische Dramatik hatte in Georg Kaiser (1878-1945) ihren bedeutendsten Vertreter. In der Literatur dieser Strömung nimmt er einen festen Platz ein. Kaiser schätzte das Theater, weil dieses wie keine andere literarische Gattung die Möglichkeit hat, auf den Rezipienten nicht nur verbal, sondern auch sinnlich zu wirken. Er ist aus dem modernen Drama nicht wegzudenken.

In 20 Jahren wurden 41 Stücke von Kaiser uraufgeführt. Zu seinen wichtigsten Stücken und zugleich zu unangefochtenen Klassikern der expressionistischen Dramatik wird das Drama „Von morgens bis mitternachts“ gezählt. Es ist 1912 entstanden, wurde 1916 gedruckt und am 28.4.1917 in München uraufgeführt. Der groβe Abstand zwischen der Entstehung und der Uraufführung von Dramen war typisch für Expressionismus.

Kennzeichnend für die expressionistische Periode war das Stationendrama, das von Strindberg übernommen wurde. Mit dieser Form des Dramas haben sich die Expressionisten auch seine grundlegenden Merkmale zu Eigen gemacht: die Typisierung von Helden, die Opposition des Protagonisten gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft. Sie wollten auch die traditionelle Dramenform aufbrechen und die Stationendrama war dafür geeignet. Es gab wenige Ausnahmen, die sich an die aristotelische Einheit von Handlung, Ort und Zeit gehalten haben. Das gilt auch, mit einer Ausnahme, für „Von morgens bis mitternachts“ – denn alle Ereignisse finden innerhalb eines Tages statt. Schon der Titel weist darauf hin. Das Stück ist in zwei Teile gegliedert. Verschiedene, in sich geschlossene, lose verknüpfte Szenen folgen aufeinander. Sie können untereinander ausgetauscht werden (z.B. Szenen „Sportpalast“ und „Ballhaus“). Unaustauschbar sind nur die erste und die letzte Szene, die in einem linearen Handlungsverlauf zueinander stehen: der Kassierer muss Selbstmord am Ende der Handlung begehen, ebenso wie die Veruntreuung zu Beginn geschehen muss. Die Stationentechnik macht die Bestimmung einer Kernstelle des Stücks unmöglich. Diese Technik setzte sich zum Ziel, einen emotionalen Schock zu erzeugen.

Das expressionistische Drama zeichnet sich durch eine im rasenden Tempo laufende Handlung und durch eine enorme Dynamik aus. Das bezieht sich auch auf Kaisers Drama: die Szenen werden sehr schnell gewechselt und wir sind mit dem Kassierer unterwegs. Dazu kommt eine neue Art des Inszenierens, der Ausgestaltung der Bühne und der Regie. Das Ziel ist, ein möglichst genaues, eindeutiges Bühnenbild zu schaffen. Die Regie- anweisungen sind sehr präzise – sie betreffen die Bühne, und auch das Verhalten der Personen wird sehr genau beschrieben, beispielsweise: „Fenster mit abgeblühten Geranien. Zwei Türen hinten, Tür rechts. Tisch und Stühle. Klavier“, „zweite Tochter (aufhörend, lauschend)“. Das sollte den Ausdruck verstärken.

Nicht das Thema allein macht den Rang eines literarischen Werkes aus. Es kommt auch auf die sprachliche Virtuosität an. In der Sphäre der Sprache unterscheiden sich die Expressionisten erheblich von anderen Epochen und Richtungen. Ihre Sprache ist sehr subjektiv und voller Metaphern. Typisch für sie sind lange Monologe. In „Von morgens bis mitternachts“ findet man ein Monolog des Kassierers auf einem verschneiten Feld. An diesem Beispiel kann man gut erkennen, dass die Sprache kurzatmig, gehetzt und gebrochen ist. Dazu trägt die Parataxe bei. Unter diesem Begriff wird eine Aneinanderreihung von Hauptsätzen verstanden. Im erwähnten Selbstgespräch des Kassierers gibt es überwiegend Hauptsätze: „Jetzt müssen Sie, schöne Dame. (…) Bringen Sie es doch, schillernde Dame, Sie lassen ja die Szene unter den Tisch fallen. (…) Und sowas spielt Komödie.“ Eine solche Schreibweise dient der Steigerung der Subjektivität.

In Dramen des Expressionismus werden Personen typisiert, d.h. ihre typischen Züge werden hervorgehoben. Sie werden nicht als individuelle Wesen dargestellt. Nicht anders ist in Kaisers Drama. Die Nebenpersonen bleiben anonym, der Leser erfährt nicht viel über sie. Sie werden auf ihre Funktion im dramatischen Geschehen reduziert, also entpersönlicht. Die Typisierung der Figuren trägt dazu bei, dass sie nur als Rollenträger auftreten. In „Von morgens bis mitternachts“ werden die Figuren auch typisiert und nur mit der Funktion bezeichnet: es gibt also eine Mutter, eine Frau, eine erste und eine zweite Tochter, eine Dame und einen Sohn. Auch der Name des Protagonisten wird nicht genannt, er wird nur als Kassierer beschrieben. Alle Ereignisse im Drama drehen sich um ihn, „Von morgens bis mitternachts“ kann also zweifelsohne als Protagonistendrama bezeichnet werden.

Kennzeichnend für die Motivik vieler Dramen des Expressionismus ist ein Wandlungsprozess des Protagonisten. Programmatisch wird er in Ernst Tollers „Die Wandlung“ (1919) angekündigt. Es ist die Geburtsstunde eines neuen Typus des Helden. Wenn er ins Leben gerufen wird, entsteht eine neue Art des Dramas – das Wandlungsdrama. In dem Aufsatz „Vision und Figur“ schreibt Kaiser: „Von welcher Art ist die Vision? Es gibt nur eine: die von der Erneuerung des Menschen.“ Seine Auffassung des Menschen stellt Kaiser vor allem im Aufsatz „Der kommende Mensch“ (1922). Seine Anthropologie bezieht sich auf diese Erneuerung, die Kaiser folgendermaβen beschreibt: der Mensch befinde sich noch auf dem Weg zur Erneuerung. Das könne zwar eine Flucht vor gegenwärtigen Problemen bedeuten, aber der Mensch sei im Stande, den Mut zu fassen, um einen Neuanfang zu haben: „Der Mensch ist mutiger, als ihm gemeinhin von Nachzüglern eingeredet wird: er hat vom ersten Tag an den Tod im Leibe – und entscheidet sich doch zu ausgreifenden Unternehmungen.“ Der alte Mensch muss überwunden werden, damit der neue Mensch auf die Suche aufbrechen kann. Nach dem Wandlungsprozess sollte der „gekonnte Mensch“ entstehen. Es ist ein Künstler, der die Welt gestalten sollte: „Die Welt ist in die Hand des Menschen gegeben – begreift er das nicht, muβ er sich morgen ermorden. Flieβend und unstet sind Natur und Geschichte – beständig ist nur der Mensch. (…) Dem Unfug von Natur und Historie steuern – das ist die Arbeit des Menschen.“

„Von morgens bis mitternachts“ ist eines der Beispiele für das Wandlungsdrama. Kaisers Werk ist zugleich ein Aufbruchsdrama – es berührt die Thematik der Revolte gegen die bestehende Ordnung, Empörung über die Unnatürlichkeit, die Ungerechtigkeit, die Widersinnigkeit der herrschenden Verhältnisse. Der Kassierer protestiert gegen die kleinbürgerliche Beschränktheit seines Daseins: „Alte Mutter am Fenster. Töchter am Tisch stickend – Wagner spielend. Frau die Küche besorgend. Von vier Wänden umbaut – Familienleben. Hübsche Gemütlichkeit des Zusammenseins.“ Er benutzt die Sprache des Widerstands gegen eine Lebensordnung, die den Menschen im Käfig der immergleichen banalen Tätigkeiten gefangen hält und seine natürlichen Instinkte bitter frustriert. Er will sein Ich endlich verwirklichen und hat die Begierde, das „echte Leben“, die Selbstbestätigung und den Lebensgenuss zu finden. Er empfindet sein Berufsleben als Arbeit im „Kerker“, befindet sich auf der Suche nach Glück und Vitalität, sehnt sich und nach ungewöhnlichen Erlebnissen. Diese Sehnsucht musste eines Tages ausbrechen. Der „neue Mensch“ ist ständig in Bewegung.

Eines Tages erscheint an seinem Schalter im „Kleinbankkassenraum“ eine elegante Dame aus Florenz und will Geld abheben, ohne unerlässliche Dokumente dabei zu haben. Er missversteht sie und entwendet ihretwegen 60000 Mark aus der Bankkasse. Aus der Klein- stadt W. stürzt er sich in die Groβstadt B. Er hat Groβes vor, weiβ seine Sehnsucht nach einem erfüllten Leben nicht mehr zu bändigen. Das ist der Grund für seine Flucht. Es ist also nicht die Besitz- oder Geldgier, die zum Motiv seines Handelns werden. Beim Sechstagerennen steigert er durch hohe Preisgelder die Ekstase der Masse, „weil die Wirkung fabelhaft ist.“ Er ist von der „freien Menschheit“ begeistert: „Hoch und tief – Mensch. Keine Ringe – keine Schichten – keine Klassen. Ins Unendliche schweifende Entlassenheit aus Fron und Lohn in Leidenschaft.“ Er will die Überwindung der Klassenschranken. Die Sensationsgier des Volks dauert allerdings nur so lange an, bis der König erscheint. Die Nationalhymne wird gespielt und der Kassierer muss eine bittere Enttäuschung erleben: die Masse ordnet sich der andächtigen Atmosphäre unter.

Im Nachtklub erlebt er die nächste Enttäuschung: die Herren stehlen den Tausender, den der Kassierer als Zeche zurückgelassen hat. Der Kellner verliert dann aus diesem Grunde seine Arbeit: „Ich habe Frau und Kinder. Ich bin seit vier Monaten ohne Stellung gewesen. Ich hatte mir eine schwache Lunge zugezogen. Sie können mich doch nicht unglücklich machen, meine Herren?“ Die Herren sind aber erbarmungslos und rücksichtslos. Hinter den Masken verbirgt sich ein offener Betrug.

Im Lokal der Heilsarmee wird der Kassierer mit Sündern konfrontiert, die scheinbar erkennen, dass sie Gottes Gebote verletzen und auf ihre Seelen schreckliche Schulden geladen haben. Unter dem Einfluss von diesen Geschichten lässt er sich selbst zum Bekenntnis hinreiβen: „Ich bekenne: ich habe mich an der Kasse vergriffen, die mir anvertraut war. Ich bin Bankkassierer. (…) Mit keinem Geld aus allen Bankkassen der Welt kann man sich irgendwas von Wert kaufen. (…) ich suche nach dem Bekenntnis die Buβe.“ Am Ende seiner Rede wirft er Scheine in die Menge und es entbrennt ein erbitterter Kampf um das Geld. Der Kassierer hofft noch, die Erfüllung in der Liebe zum Heilsarmeemädchen, aber sie entpuppt sich als Polizeiinformantin und verrät ihn für das Geld. Wegen des Raubes ist der Rückweg ins ehemalige Leben versperrt.

Durch diese Ereignisse wird allmählich die Desillusionierung gesteigert. Das expressionistische Drama orientiert sich am Illusionstheater, was auch für „Von morgens bis mitternachts“ gilt. Der Kassierer muss scheitern, denn diese Welt ist so desillusionierend, dass es nur das endlose Leid für ihn gibt. Er hegt zwar die Illusion, dass die Wandlung der Welt durch die Wandlung des Menschen stattfinden kann, aber er muss eine bittere Enttäuschung erleben. Das resultier aus der Sichtweise der Welt von Expressionisten: alles, was existiert, erscheint ihnen als etwas Negatives, Fatales, was man überwinden muss, um das Kommende zu begrüβen. Das Kommende sollte also das Lebensfrohe, das Optimistische, das Positive sein. Darauf hofft der Kassierer, wenn er seinen Aufbruchsversuch unternimmt. Aber nach und nach, mit jeder Etappe seiner Reise verliert er die Illusion, dass er sich in dieser Gesellschaft zurechtfinden kann. Er muss entdecken, dass er nicht in die bürgerliche Gesellschaft passt und seine Ausweglosigkeit und Einsamkeit erkennen.

In expressionistischen Dramen kann man ganz oft auf surrealistische Motive treffen. Es gilt auch für „Von morgens bis mitternachts“. Ein signifikantes surrealistisches Motiv ist die Begegnung mit dem Tod. Ein Baumgeäst ähnelt einem Totengerippe. Es hat also einen allegorischen Charakter. Im Monolog auf verschneitem Feld wendet sich der Kassierer an den Tod: „Hast du die ganze Zeit hinter mir gesessen und mich belauscht? Bist du ein Abgesandter der Polizei? (…) Umfassend: Polizei des Daseins? – Bist du die erschöpfende Antwort auf meine nachdrückliche Befragung?“ Vielleicht ahnt er es schon, dass er sich mit dem Tode persönlich treffen muss. So ist sein Ende: „Ecce homo“ sind seine letzten Worte. Sein Selbstmord ist zwar kein Opfer, aber es sind deutliche Anspielungen auf die Passion Christi zu erkennen. Er stirbt unter einem als Totengerippe aufleuchtenden Kronleuchter: der Kassierer „ist mit ausgebreiteten Armen gegen das aufgenähte Kreuz des Vorhangs gesunken.“ Seine Wanderung durch die einzelnen Stationen ist zur Qual geworden. Es muss aber erwähnt werden, dass sein Opfer niemanden erlöst.

Wie Walther Huder hinweist, kann der Kassierer mit Faust von Goethe verglichen werden. Beide jagen ungewöhnlichen Erlebnissen nach; groβe Taten werden ihnen jedoch verweigert. Die bürgerliche Gesellschaft ekelt sie an, sie wollen über ihr stehen und die Erfüllung finden. Deswegen schlieβt Faust einen Pakt mit dem Teufel und der Kassierer flieht aus der Spieβigkeit seiner bisherigen Existenz. Beide erleiden jedoch eine bittere Niederlage.

Aufgrund von oben genannten Eigenschaften des expressionistischen Dramas kann festgestellt werden, dass „Von morgens bis mitternachts“ zweifelsohne zu Dramen dieser literarischen Strömung zählt. Georg Kaisers Virtuosität machte ihn zum wichtigsten Dramatiker des Expressionismus. Eines seiner wichtigsten Dramen, „Von morgens bis mitternachts“ bestätigt.

Primärliteratur:

Kaiser, Georg: Von morgens bis mitternachts. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2007.

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