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30.9.13

Theodor Storm: "Immensee". Teil 8

„Elisabeth”

Am nächsten Nachmittag gingen Elisabeth und Reinhard spazieren. Auf die Bitte Erichs sollte sie ihm die Umgebung zeigen. Reinhard erinnerte sich an die vergangenen Zeiten, als die beiden nach Erdbeeren gesucht hatten. Er dachte mit Sehnsucht an die Vergangenheit, empfand leidenschaftlichen Schmerz. Die Umgebung evozierte in ihm Erinnerungen, z.B. eine Blume – Erika, die er fand, die er auch zwischen den Blättern in einem alten Buch hat und die er von Elisabeth bekommen hatte. Sie konnte sich daran noch erinnern. Daraufhin fragte Reinhard: hinter jenen blauen Bergen liegt unsere Jugend. Wo ist sie geblieben?

Die beiden sagten kein Wort, sondern wanderten weiter. Ein Gewitter zog auf, sie begaben sich also mit dem Kahn nach Hause. Reinhard beobachtete Elisabeth und verstand, dass sie das gleiche empfindet wie er: Er sah auf ihr jenen feinen Zug geheimen Schmerzes, der sich so gern schönen Frauenhände bemächtigt, die nachts auf krankem Herzen liegen.

Am Hof angekommen, begegneten sie einer Bettlerin. Elisabeth gab ihr den Inhalt ihrer Geldbörse und ging weinend ins Haus. Die Bettlerin bewegte sich nicht. Reinhard meinte, dass sie noch ein Almosen wolle, aber es war nicht der Fall. Reinhard hörte nur die Worte eines alten Liedes:

Sterben, ach sterben
soll ich allein!

In seinem Zimmer begann Reinhard zu arbeiten, aber konnte sich nicht konzentrieren. Er ging ins Familienzimmer, aber niemand war da. Dann fuhr er mit dem Kahn am See und kam nach Hause zurück, als es schon dunkel geworden war. Leise saß er in seinem Zimmer und hörte nur das Schlagen seines Herzens.  Unter ihm im Hause ging alles zur Ruh, die Nacht verrann er fühlte es nicht. – So saß er stundenlang. Endlich stand er auf und legte sich ins offene Fenster. Der Nachttau rieselte zwischen den Blättern, die Nachtigall hatte aufgehört zu schlagen. Allmählich wurde auch das tiefe Blau des Nachthimmels von Osten her durch einen blaßgelben Schimmerverdrängt; ein frischer Wind erhob sich und streifte Reinhards heiße Stirn; die erste Lerche stieg jauchzend in die Luft. 


In dieser geruhsamen Stimmung schrieb er einige Zeilen, nahm seinen Hut und seinen Stock und kam in den Garten, wo er merkte, dass die Nacht schon vorbei war. Plötzlich näherte sich ihm Elisabeth, die behauptete, dass er nie wieder zurückkomme. Er gestand ihr, dass sie Recht habe. Sie sagte kein Wort mehr. Dann kehrte er sich gewaltsam ab und ging zur Tür hinaus. – Draußen lag die Welt im frischen Morgenlichte, die Tauperlen, die in den Spinngeweben hingen, blitzten in den ersten Sonnenstrahlen. Er sah nicht rückwärts; er wanderte rasch hinaus; und mehr und mehr versank hinter ihm das stille Gehöft, und vor ihm auf stieg die große, weite Welt. – –

29.9.13

Wünsche

Bald beginne ich wieder, Beiträge für das Blog zu schreiben.


Inzwischen hätte ich eine Bitte. Ich weiß, dass ich Leser und Leserinnen aus einigen Ländern habe. Traut euch etwas über euch selbst zu schreiben! Wünsche sind gerne gesehen. Wenn ihr über etwas Bestimmtes lesen wollt, versuche ich dies in meinen Plänen zu berücksichtigen. 

1.9.13

Theodor Storm: "Immensee". Teil 7

"Meine Mutter hat's gewollt" 

An einem Abend saß die Familie gemütlich im Gartensaal zusammen. Neben Reinhard saß Elisabeth. Man bat ihn, einige Volkslieder zu singen, die ihm von einer Frau vom Lande zugeschickt worden waren. Über die Herkunft von Liedern sagte Reinhard:

Sie werden gar nicht gemacht; sie wachsen, sie fallen aus der Luft, sie fliegen über Land wie Mariengarn, hierhin und dorthin und werden an tausend Stellen zugleich gesungen. Unser eigenstes Tun und Leiden finden wir in diesen Liedern; es ist, als ob wir alle an ihnen mitgeholfen hätten. 

Eines der Lieder kannte auch Elisabeth und sang mit Reinhard mit. Inzwischen nähte die Mutter und Reinhard hörte zu. Als sie fertig waren, war es ganz leise. Plötzlich hörten sie einen Knaben dasselbe Lied singen:

Ich stand auf hohen Bergen
Und sah ins tiefe Tal ...

Es stellte sich heraus, dass das Lied in dieser Gegend oft gesungen wird.
Als es schon dunkler wurde, las Reinhard das nächste Lied vor:
Meine Mutter hat's gewollt,
den andern ich nehmen sollt;
was ich zuvor besessen,
mein Herz sollt es vergessen;
das hat es nicht gewollt.
Meine Mutter klag ich an,
sie hat nicht wohl getan;
was sonst in Ehren stünde,
nun ist es worden Sünde;
was fang ich an?
Für all mein Stolz und Freud
gewonnen hab ich Leid.
Ach, war das nicht geschehen,
ach, könnt ich betteln gehen
über die braune Heid!


Beim Lesen zitterten Reinhard die Hände. Elisabeth schwieg und begab sich in den Garten. Reinhard ging an den See spazieren und sah die Lilie wieder. Er schwamm in ihre Richtung, aber es schien ihm, als ob die Entfernung zwischen ihm und der Blume nicht geringer geworden wäre. Endlich näherte er sich ihr, fühlte sich jedoch unheimlich. Als er ins Haus zurückkam, fand er Erich und die Mutter vor, die sich mit Vorbereitungen auf eine Geschäftsreise beschäftigten. Auf ihre Frage, wo er gewesen war, antwortete Reinhard, dass er die Wasserlilie besucht hatte, die er früher gekannt hatte. Es war jedoch schon lange her.