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7.12.11

„Jetzt, jetzt weiβ ich, daβ es das Paradies war“. Literarische Verwirklichung der Welt der Kindheit in Borcherts Kurzgeschichten. Teil 1

Was Wolfgang Borcherts Feder in vielen Kurzgeschichten zu Papier brachte, waren Erinnerungen aus seiner Kindheit. Viele Erinnerungen sind als Stoff in sein Werk eingegangen. In diesen Kurzgeschichten brachte er seine Sehnsucht nach der ungetrübten Zeit der Kindheit zum Ausdruck. Die unmittelbare Nachkriegszeit (in der er sein Werk verfasste) stand im krassen Widerspruch zur Welt der Kindheit. In reizenden Erzählungen erscheinen Borcherts Familienmitglieder: der Vater (Die Kirschen, Die Professoren wissen auch nix), die Mutter (Schischyphusch, Die Küchenuhr, Die Professoren wissen auch nix), der Onkel (Schischyphusch), der Vetter Karlheinz Corswandt (Der Stiftzahn). Diese Geschichten beinhalten heitere Klänge, zugleich die Tiefe der Reflexion. So sind in ihnen beträchtliche Unterschiede zu Kriegsgeschichten bemerkbar. Sie verraten eine unverkennbare Tendenz zu wehmütigen Kindheitserinnerungen, zum ungetrübten Humor. Borchert verwirklicht literarisch die Welt seiner Kindheit, verschlüsselt eigene Kindheitserinnerungen in sein Werk. Die glückliche Zeit der Kindheit bildet für ihn den thematischen Orientierungspunkt. Den schmerzhaften zeitgeschichtlichen Hintergrund klammert er aus, um das wahrhaftige Paradies der Kindheit zu gestalten, um sich in den hohen Himmel der Illusion zurückzuziehen.

Wolfgang Borchert wurde als einziger Sohn des Volksschullehrers Fritz und der Schriftstellerin Hertha Borchert geboren. Er ist in gesicherten bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Borchert übernahm die Glaubenslosigkeit seines Vaters. Er war ein mittelmäβiger Schüler, verlieβ die Schule ohne Abiturabschluss. Seine Eltern haben ihn dazu überzeugt, sich als Buchhändler ausbilden zu lassen. In der Kurzgeschichte Die Küchenuhr befindet sich ein Hinweis darauf, was Kindheit für den Schriftsteller bedeutete: „Jetzt, jetzt weiβ ich, daβ es das Paradies war. Das richtige Paradies“ (Borchert 1947: 239). Die Kindheit und die Jugend sind das Paradies, an das sich der gefangene und später todkranke Schriftsteller erinnert. Er greift die Kindheitsressourcen auf, um sich in Zeiten der schweren Krankheit in eine andere Welt zurückzuziehen.

Als der junge Schriftsteller bettlägerig war, erinnerte er sich mit Wehmut an die Zeit seiner Kindheit und zog sich in einigen von seinen Geschichten ins „innere Reich“ zurück: „Meine Seele entflieht in die Reiche meiner Phantasie – und da ist Liebe, Gröβe, Kunst und Schönheit. Angst habe ich nur vor der müden Melancholie und der hamletischen Resignation, die mich ja doch befallen wird“. Man hat den Eindruck, als ob er eine innere Harmonie in der geborgenen Welt der Illusion gefunden hätte. Er sehnt sich nach einer harmonischen Welt. Angesichts der Realität erscheint alles sentimental und irreal.

Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels ist die bekannteste Kindheitserzählung Borcherts. Der Erzähler geht mit seiner Mutter und mit seinem Onkel am Sonntag ins Restaurant. Aus einem Missverständnis zwischen zwei Männern, zwischen dem Onkel und einem Kellner, die denselben Zungenfehler haben, erwächst ein Konflikt. Jeder ist davon überzeugt, dass der andere ihn nachäffen und blamieren will, was aber nicht der Fall ist. Nach einer Auseinandersetzung kommt es schlieβlich zur Versöhnung. Borchert beschreibt beide Männer folgendermaβen:

So standen sie nun und sahen sich an. Beide mit einer zu kurzen Zunge, beide mit demselben Fehler. Aber jeder mit einem völlig anderen Schicksal (Borchert 1947: 409).

Der kleine Kellner und mein groβer Onkel. Verschieden wie win Karrengaul vom Zeppelin. Aber beide kurzzungig. Beide mit demselben Fehler. Beide mit einem feuchten wässerigen weichen sch (Borchert 1947: 410).

Einer von den beiden Männern soll Borcherts Onkel Hans Salchow gewesen sein. Es war ein Bruder seiner Mutter, ein einbeiniger, sprachbehinderter Mensch. Einbeinig ist er aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt. Trotzdem war er ein lebenslustiger Mensch, der es nach dem Krieg zu einem Vermögen brachte. Dann geriet er in Schulden, die er bald tilgte und heiratete ein Mädchen, das keinen Sinn für Sparsamkeit hatte. Später war er Inhaber einer Kommunistenkneipe „Rote Burg“. Seinen Onkel sah Wolfgang Borchert als eine abenteuerliche Figur an.

In Schischyphusch wird der Onkel als eine gutmütige, rührende, lebenslustige, lachende Gestalt beschrieben:

Und mein Onkel, dieser Onkel, der sich auf einem Bein, mit zerschossener Zunge und einem bärigen baβstimmigen Humor durch das Leben lachte“ (Borchert 1947: 415).

Der Erzähler hat Mitgefühl sowohl für seinen Onkel, als auch für den Kellner. Er lenkt seinen Blick auf individuelle Züge und Schwächen der beiden Figuren. Die Bilder von Gefühlen und Reaktionen der beiden überlagern sich.

Ein Seitenblick in der Geschichte fällt auf die Mutter aus. Borcherts Verhältnis zu seiner Mutter kann man als eine eindeutig affektive Beziehung beschreiben. Ihre Gestalt erscheint in drei Kurzgeschichten und wird nicht individuell geschildert. Ihr Bild verschwimmt. Der Figur der Mutter hat Borchert vor allem eine wirklichkeitsnahe Dimension verliehen. In Schischyphusch ist die Schilderung ihrer Gestalt realistisch: „Die Hand meiner Mutter war eiskalt. Alles Blut hatte ihren Körper verlassen, um den Kopf zu einem grellen plakatenen Symbol der Schamhaftigkeit und des bürgerlichen Anstandes zu machen. Keine Vierländer Tomate konnte ein röteres Rot ausstrahlen. Meine Mutter leuchtete“ (Borchert 1947: 415). Ihre Gestalt erscheint in der Geschichte Die Professoren wissen auch nix: die Mutter steht hier ebenfalls im Hintergrund, in der Küche. Sie diskutiert mit dem Vater über eine Geschichte ihres Sohnes. Wieder wird auf ihr Aussehen eingegangen: „Meine Mutter hat einen vagabundig rot- und blaubekleckerten Schal um, der von einer bäuerlichen Spange gebändigt wird“ (Borchert 1947: 404).

Realistisch ist auch die Schilderung der Mutter in der Kurzgeschichte Die Küchenuhr: „Dann stand sie da in ihrer Wolljacke und mit einem roten Schal um. Und barfuβ. Immer barfuβ. Und dabei war unsere Küche gekachelt. Und sie machte ihre Augen ganz klein, weil ihr das Licht so hell war. Denn sie hatte ja schon geschlafen. Es war ja Nacht“ (Borchert 1947: 238). Die einfache Sprache, die weitab von Metaphern kreist, ist bestechend. Die Erinnerung an die Mutter ist ins Gedächtnis der Hauptperson fest verstrickt. Um sich in Verzweiflung nicht zu verlieren, um das nagende Gefühl der Trauer zu unterdrücken, denkt der Held mit Wehmut über die Zeit nach, die im krassen Gegensatz zu der Realität steht. Er redet zwar mit Personen, die um ihn herum sitzen, aber es ist deutlich ablesbar, dass der junge Mann sich in seine Eigenwelt aus Erinnerungen einspinnt. Es kann nicht wundernehmen, dass eine Rückwendung auf sich selbst sich auch in dieser Geschichte von Borchert findet. Rückblickend bezeichnet er seine Kindheit als Paradies: „Jetzt, jetzt weiβ ich, daβ es das Paradies war. Das richtige Paradies“ (Borchert 1947: 239). Diese Worte lässt er einen jungen Mann sagen, der im Krieg alles verloren hat. Aus der Ruine seines Elternhauses hat er nur eine Küchenuhr gerettet. Die Uhr blieb um halb drei stehen. Um diese Stunde kam er immer von der Arbeit nach Hause. Seine Mutter stand dann auf und bereitete ihm Essen zu. Die Eltern des jungen Mannes sind bei jenem Luftangriff ums Leben gekommen.

In Die Küchenuhr klingt ein feststehender poetologischer Topos an - das Motiv der Vertreibung aus einem Paradies. An der Diskrepanz zwischen diesem Paradies und dem Krieg konnte Borchert nicht vorbeigehen. Der junge Mann aus der Geschichte hat im Krieg alles verloren, nichts ist übrig geblieben auβer der Küchenuhr und den Erinnerungen. Die Gegenwart empfindet er als quälend und zerstörerisch. Am Ende der Szene schweigen alle, die den auf einer Bank sitzenden Mann umgeben. Der Mann, der neben ihm sitzt, muss „immerzu an das Wort Paradies“ (Borchert 1947: 239) denken.

Primärliteratur:

BORCHERT, Wolfgang (1947): Die Küchenuhr. In: Das Gesamtwerk, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2009.

BORCHERT, Wolfgang (1947): Die Professoren wissen auch nix. In: Das Gesamtwerk, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2009.

BORCHERT, Wolfgang (1947): Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels. In: Das Gesamtwerk, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2009.

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